Das Leben ist uns gut

In der S-Bahn von Minden nach Bückeburg saß ein junger Mann zwei Reihen vor mir und hat geweint, laut geweint und geschluchzt.
Er hätte mein Sohn sein können – wohl deshalb ist mir sein Weinen sehr nahe gegangen.
Enttäuschte Liebe, verfahrenes Leben, zusammenbrechen unter dem, was das Leben uns aufpackt, nicht wissen, wo wir hingehören, Bockmist gebaut haben ….
Es ist ein Weinen in der Welt!

Gestern abend habe ich eine Geschichte von John Kord Lagemann gefunden:

Einmal saß ich bei der Bahnfahrt neben einem jungen Mann, dem sichtlich etwas Schweres auf seinem Herzen lastete. Schließlich rückte er damit heraus, dass er ein entlassener Sträfling und jetzt auf der Fahrt nach Hause sei. Seine Verurteilung hatte Schande über seine Angehörigen gebracht, sie hatten ihn nie im Gefängnis besucht und auch nur ganz selten geschrieben. Er hoffe trotzdem, dass sie ihm verziehen hätten.
Um es ihnen leichter zu machen, hatte er ihnen im Brief vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an der kleinen Farm vor der Stadt vorbeifuhr, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm stünden. Hatten die Seinen ihm verziehen, so sollten sie in den Apfelbaum an der Strecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht wieder daheim haben wollten, sollten sie gar nichts tun, dann werde er im Zug bleiben und weiterfahren, weit weg. Gott weiß, wohin.
Als der Zug sich seiner Vaterstadt näherte, wurde die Spannung so groß, dass der junge Mann es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ein anderer Fahrgast tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten. Gleich darauf legte er dem jungen Sträfling die Hand auf den Arm. „Da ist er“, flüsterte er, und Tränen standen ihm plötzlich in den Augen, „alles in Ordnung. Der ganze Baum ist voller weißer Bänder.“ – „Mir war“, sagte der Mann später, „als hätte ich ein Wunder miterlebt. Und vielleicht war es auch eins“.

Ich hätte dem jungen Mann zwischen Minden und Bückeburg gerne gesagt: Du, auch für dich hängen weiße Bänder im Apfelbaum, es sind, egal, wie verkorkst die Lage ist, immer wieder Neuanfänge möglich.

Und morgen, wenn ich auf den Friedhof gehe, möchte ich wissen, dass die, die uns vorausgegangen sind ins Anderland, mit weißen Bändern empfangen wurden. Sie sind nicht in ein Nichts gefahren, zum großen Aus-und-Vorbei – sie sind in das Land gefahren, wo weiße Bänder an den Bäumen hängen, wo alle Tränen abgewischt werden, wo kein Leid mehr ist, egal, was mensch verbockt, gelitten oder verloren hat.

Und wenn ich Angst habe vor dem, was mich im Leben noch alles erwartet – ich möchte an die weißen Bänder denken, Gott meint es gut mit mir. Ich werde mit Liebe empfangen, egal, wo ich hinkomme!

Und wenn bei mir etwas schiefgegangen ist, wenn Beziehungen nicht so gelingen, wie ich es mir wünsche, wenn mein Gewissen mir einhämmert, dass ich tausendmal schuldig geworden und geblieben bin, dann denke ich an die weißen Bänder.

Wo könnten wir weiße Bänder aufhängen, damit Menschen in unserem Umfeld spüren: Das Leben ist uns gut!!

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