10. Dezember – Von guten Mächten wunderbar geborgen

19. 12. 1944, Kellergefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße

Meine liebste Maria!

Ich bin so froh, daß ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unseren Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: „zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken“, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder. Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht. Ich bin jeden Tag froh, daß ich Dich, Euch habe und das macht mich glücklich froh …

… Hier sind noch ein paar Verse, die mir in den langen Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister.

Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, – so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr …

Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Die Auszüge sind aus dem Buch „Brautbriefe Zelle 92“ , Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer 1943 – 1945, C.H.Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1995, Seiten 208 und 209. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

2006 haben wir in Rinteln einen LandFrauen-Gottesdienst gefeiert. Der damals hochbetagte Pastor i.R. Konstantin von Kleist-Retzow, ein Cousin der Maria von Wedemeyer, hat diesen Brief vorgelesen. Das hat uns alle tief bewegt.